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Der Autor:
Raschid al-Daïf (geboren 1945) ist einer der bekanntesten libanesischen
Schriftsteller. Nach zwei Gedichtbänden hat er seit 1983 über
ein Dutzend Romane veröffentlicht, die sich in erster Linie mit Verletzungen
des Menschen befassen - vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs, der
familiären Vergangenheit und der Paarbeziehungen. Auf Deutsch liegt
vor: Lieber Herr Kawabata (Basel [Lenos], 1998; z. Zt. vergriffen). Auf
Englisch sind mehrere, auf Französisch zahlreiche Titel greifbar.
Der Roman:
Ein Buch über den Libanon, über Not (materielle und intellektuelle)
und Emigration und eine versuchte, eine erhoffte Rückkehr.
Die Emigration ist hier nicht Resultat des Bürgerkriegs von 1975-1990,
die Handlung spielt über hundert Jahre früher. Es ist ein historischer
Roman, in dem fiktive Gestalten und bekannte historische Figuren aus der
zweiten Hälfte des 19. Jh. miteinander verwoben werden. Bekannt ist
besonders Dschurdschi Saidan (Jurji Zaydan, 1861 - 1914), der aufgeklärte
und aufklärende arabische Nationalist und Intellektuelle, der den
Libanon verliess und in Ägypten als Journalist eine eminent wichtige
Rolle spielte. Und da sind die Gründer und Dozenten des Syrian Protestant
College, aus dem später die American University of Beirut (AUB) wurde:
Cornelius van Dijk und Daniel Bliss.
Vor diesem Hintergrund, kurz nach dem Beginn des intellektuellen Aufbruchs
in der arabischen Welt im 19. Jh., entwickelt Raschîd al-Daîf
das Schicksal eines Jungen, dann Mannes, Fâris, der in ärmlichen
Verhältnissen in Beirut geboren wird. Er wächst mir Dschurdschi
Saidân zusammen auf, teils gehen sie auch in dieselbe Schule. Fâris'
Vater emigriert, und fünf Jahre lang hört die Familie nichts
von ihm. Die beiden Knaben machen gemeinsam ihre ersten Männererfahrungen,
und sie gehen an die AUB, um Medizin zu studieren, womit sie ihrem Land
nützlich zu sein hoffen. Es wird von der eher unkonventionellen Art
der Leichenbeschaffung für die Anatomie ebenso erzählt wie vom
Eindringen der Darwin'schen Lehre. Im Zusammenhang mit einem verbotenen
Studentenstreik verlassen die Freunde (inzwischen ist ein dritter dazu
gekommen) die Universität und gehen ins Ausland: Fâris nach
Amerika, die beiden anderen nach Kairo.
In den Vereingten Staaten arbeitet Fâris erst einige Jahre als Hausierer,
dann kehrt er auf die Universität zurück. Verschiedene Erlebnisse
machen ihm seine Situation als Ausländer und Araber deutlich. Schliesslich
nimmt er als Arzt am spanisch-amerikanischen Krieg teil und lernt auf
Kuba eine Frau chinesischer Abstammung kennen, die er heiratet und mit
der er in den Libanon zurückkehren will. Als Arzt hofft er, an der
Entwicklung des Landes mitwirken zu können.
Es kommt anders. Unterwegs stirbt er. Seine Frau beschliesst, ihn im Libanon
zu bestatten. Doch während der Sarg auf dem Hafengelände auf
den Abtransport wartet, wird die Leiche entwendet - um im Anatomieunterricht
als Anschauungsmaterial zu dienen.
Es ist ein sehr libanesischer Roman, der versucht, die nationalen, nationalistischen
Empfindungen der jungen Männer einzufangen. Junge Männer, die
das Gefühl haben, ihrem Land dienen zu wollen, ja zu müssen,
und deren Elan sich an verschienen Hindernissen stösst: der materiellen
Not; der Begrenztheit der eigenen Umgebung, nicht zuletzt der sexuell-moralischen
Barrieren; schliesslich der Beschränktheit derer, die den Fortschritt
zu bringen versprechen.
Leseprobe
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